Frei sein
In unserer Bibliothek gibt es eine kleine Figur: einen lesenden Mönch. Er ist frei. Was immer auf ihn zukommen mag, jetzt nimmt er sich Zeit zum Lesen.
Impuls | 21. Mär 2011
Er ist mit dem schwarz-weißen Gewand der Zisterzienser bekleidet. Die Kapuze auf seinem Kopf zeigt an, dass er sich ganz gesammelt auf sein Tun ausgerichtet hat und sich nicht so leicht ablenken lässt.
In aller Ruhe hat er sich auf seinem Sitz niedergelassen. Seine bloßen Füße berühren den Boden. Die linke Hand stützt das geöffnete Buch, die rechte hält und bewegt die Seiten.
Sein Gesicht wirkt gesammelt, sein Mund ist leicht geöffnet, als ob seine Lippen die gelesenen Worte mitformen, sein Blick richtet sich auf die Seiten des Buches.
Er ist frei. Er ist frei zum Lesen (RB 48,4.13.14.17.22). Er nimmt sich Zeit. Was immer auf ihn zukommen mag, jetzt nimmt er sich Zeit zum Lesen.
Zu einem Lesen, das nicht auf Sammlung von Informationen angelegt ist, das nicht auf kurzfristige Zwecke, auf schnelle Eindrücke und Urteile zielt, zu einem Lesen „ganz und der Reihe nach“ (RB 48,15), zu einem ruhigen und achtsamen Lesen, das dem Kennenlernen und der Begegnung dient - und das sich immer wieder überraschen lässt.
Er widmet sich seiner Lesung und dem, den er darin sucht.
An manchen Tagen stelle ich mir vor, dass er seinen geübten Blick vom Buch hebt und mich anschaut, um in meinem Gesicht zu lesen. Dann scheint er mich zu fragen:
Und du? Wem widmest du dich? Wofür bist du frei?